29.04.2017 – Irgendwo oberhalb des Bodenseeufers auf der Schweizer Seite
Ich blicke auf den Bodensee und Konstanz. Den Ort, an dem ich erwachsen geworden bin, an dem ich geliebt und getrauert habe, gelacht und geweint. Bis spät in die Nacht getanzt und lang in den Tag geschlafen habe. Der Ort, an dem ich gelernt und vergessen habe, an dem ich Erfolge und Misserfolge hatte. An dem ich glücklich und unglücklich war.
Die Sonne drückt sich zaghaft durch das feuchte Grau des morgendlichen Nebels. Gestern noch waren die Felder von weissem Schnee bedeckt. Heute schimmern sie im warmen Schein des gelben Feuerballs. Das Leben ist geprägt von Veränderungen, nicht nur in der Natur. Wie ein Fluss ist auch das Leben niemals gleich. Mal gradlinig, dann wieder eng umschlungene, kaum einsichtige Flussbiegungen und turbulente Wildwasser. Der gleiche Fluss kann mal sanft und mal reissend sein. Die letzten Jahre rissen mich einige dieser Stromschnellen mit. Ein sich schon von weitem ankündigender Wasserfall, den ich lange zu ignorieren versuchte, liess mich letztlich tief fallen. In sein Wasserbecken getaucht umgab mich wild sprudelndes kaltes Nass. Mit angehaltener Luft versuchte ich mich zu orientieren. Was ist passiert? Wo bin ich? Wo ist oben? Wo unten? Was soll ich tun? Oder besser gesagt, was kann ich überhaupt tun? Wohin kann oder soll ich nun schwimmen? Dieser Ort war eine fremde Welt für mich. Plötzlich fühlte ich mich in meiner alten Heimat fehl am Platz.
Als ich es irgendwie schaffte an die Wasseroberfläche zu schwimmen, sah ich, dass das Becken, welches unter Wasser sprudelnd wild war, an der Oberfläche ganz sanft vor sich hinplätscherte. Ich erkannte, dass hinter den Büschen und Bäumen am Uferrand kleine Flussärmchen weggingen. Irgendwohin müssen die Wassermassen, die mich so turbulent mitgerissen haben, ja auch weiter fliessen. Es stellte sich nun die entscheidende Frage, welchen dieser vielen Abzweigungen ich nehmen sollte. Wie und wo will ich zukünftig leben? Was gibt mir Sinn? Wer bin ich ohne mein altes Leben? Wer will ich sein? Was macht mich glücklich? Ich entschied mich für einen Flussarm, den ich schon früher einmal von weitem erspäht hatte und von dem ich mir erhoffte, er könnte mir bei meiner Suche nach einer neuen Aufgabe, nach einem Sinn, einer Heimat und meinem wahren Selbst helfen. Die Reise führte mich über Norddeutschland, Schweden und Norwegen bis ans Nordkap. Es war eine Reise, die mein Leben veränderte.
Nun schaue ich zurück auf dieses eine Jahr voller einschneidender Erlebnisse und prägender Erkenntnisse. Nie zuvor habe ich so bewusst gelebt, nie war ich mir so nah wie in dieser Zeit. Und ich bin es noch immer. Heute bin ich die, die ich schon immer sein wollte. Die ich tief in mir drin vielleicht schon immer war. Ich sitze hier, in meinem paar Quadratmeter grossen, fahrbaren Lebensraum, und blicke auf den Bodensee. Ich bin glücklich, diesen wunderbaren Ort wieder meine Heimat nennen zu dürfen. Auch wenn Heimat für mich mittlerweile etwas ist, was sich mehr in mir selber als im Aussen befindet, so ist dieses Stückchen Erde mit all meinen liebgewonnenen Freunden das, was mein Glück perfekt macht. Es ist der Ort, an dem ich Ich sein kann.
Jeder fällt einmal, oder manchmal auch mehrmals in seinem Leben, einen solchen Wasserfall hinab oder wird von Stromschnellen mitgerissen. Das gehört zum Fluss des Lebens dazu. Aber jeden Weg, den wir gehen oder, um bei der Metapher des Flusses zu bleiben, jedes Gewässer, was wir befahren, bringt uns weiter. Weiter im Leben und weiter zu uns selber. Und je näher wir uns selbst sind, desto eher wissen wir, was uns glücklich macht und was nicht. Und sobald man dies weiss, ist es ein leichtes sein Boot in die richtige Richtung zu steuern, selbst dann, wenn es durch ein wildes Fahrwasser geht.
— Ein Plädoyer, Veränderungen zu nutzen und das Glück in sich zu suchen. —