Grenzerfahrungen 

Um zu lernen und zu wachsen, muss der Mensch neue Erfahrungen machen. Neue Erfahrungen machen wir aber nicht, wenn wir uns stetig auf ein und denselben Pfaden bewegen. Um Neues zu lernen, muss ich mich zwangsläufig aus meiner gewohnten «Umgebung» herausbewegen. Ich muss den Schritt aus der Komfortzone in die sog. Lernzone wagen. Nur jenseits dieser Grenze gibt es das Potenzial für unsere persönliche Weiterentwicklung. 

Diese Weiterentwicklung ist aber nicht ohne Gefahren möglich. Wir können nie vorher mit Sicherheit wissen, wie unser Geist und Körper beim Betreten von diesem Neuland reagieren wird. Wir haben (hoffentlich) Vorerfahrungen, aber nie werden wir Neues mit derselben Sicherheit erfahren können wie Gewohntes. Ein gewisses Risiko steckt daher in jedem Lernprozess. Wieviel Risiko wir dabei eingehen, obliegt uns. Wie schwer es aber manchmal ist, die mit neuen Erfahrungen verbundenen Risiken richtig einzuschätzen, möchte ich im Folgenden mit euch teilen. 

Am Berg

Ich bin eine Bergziege. Nicht von Geburt an, aber doch die meiste Zeit meines bisherigen Lebens. Als Kind musste mich mein Vater regelrecht den Berg hochlamentieren. Dabei ging er nicht besonders geschickt vor. Es gab Androhungen von Süssigkeiten- und Fernsehverbot bis hin zu Trinkverboten bis wir oben sind. Die Peitsche kam ohne das Zuckerbrot daher.

Erstaunlicherweise hat er mir damit nicht die Freude an der Natur genommen. Er hat sie nur etwas auf später verschoben. Denn mit Ende zwanzig hat mich die Liebe zu den Bergen und dem unbegrenzten Weitblick auf die nahegelegenen Gipfel des Alpstein gelockt. Die üblichen Tourirouten und vielleicht mal sanfte Abkürzungen reichten aber damals vollkommen aus. Mit Höhenangst im Gepäck sahen die Routen auch nie sonderlich exponiert aus. 

Vor etwa zehn Jahren hat mich dann vollends das Bergfieber gepackt. Ich wollte auch alpine Routen und Klettersteige machen. Die Höhenangst musste also weg. Klettersteige an Staumauern waren dafür ein super Training. Als Hobby Boulderin waren diese technisch nicht sonderlich schwer, aber mental eine ordentliche Challenge. Ich siegte über meine Angst und definierte es nach einigen Grenzerfahrungen für mich neu als «Respekt vor der Höhe». Mein Körper hatte gelernt, dass es für ihn keine Gefahr darstellte, eine Staumauer von 70m hochzuklettern und nur auf ein paar kleinen Absätzen zu stehen. Natürlich gesichert mit Helm und Klettersteigset.

Heute am Gauschla sollte ich mich nochmal ganz neu kennenlernen

Gauschla 11. November 2024

Heute bin ich sowohl über meine mentalen als auch körperlichen Grenzen gegangen, habe es aber gemerkt, bevor schlimmeres passiert ist. Es gab kein Hadern, keine Unsicherheit, keine falsche Eitelkeit. Es gab nur die faktische Realität: Ich befinde mich in einem Hang, bei dem ich zu spät erkannt habe, dass er zu steil wird. Weder der Blick nach unten, geschweige denn der Weg zurück waren mir möglich. Technisch wie auch mental. Also rief ich die Bergrettung. Aber jetzt erstmal von Anfang an … 

Den Pfad vom Palfries auf den Gauschla, als T5/T6 von anderen Berggehern eingestuft, wollte ich mir «anschauen». Und wie das so ist, beim «Anschauen», schaut man immer weiter. Nur noch um das nächste Eck, über die nächste Flanke und nur noch den nächsten Wiesenhang. Ganz allmählich und klamm heimlich nahm die Steilheit zu. Aber alles noch gut machbar. Hin und wieder blickte ich nach unten, von wo ich hergekommen war, und fragte mich, wie hier jemand absteigen kann. Es muss gehen, denn tags zuvor traf ich auf meiner Rundtour zum Alvier einen Wanderer, der genau diese Route über den Gauschla in umgekehrter Richtung gegangen ist. Wo jemand herunter kommt, muss man doch auch hochlaufen können, redete ich mir ein. Und es ging ja auch. Dennoch hoffte ich inständig hier nicht mehr runterlaufen zu müssen. Also ging es weiter bergauf, immer wieder auch meine Position prüfend, da es keine Wegweiser und andere Markierungen gab. Auch der anfängliche Pfad verlor sich irgendwann in den weiten Wiesenhängen. Bis auf ein paar wenige Meter befand ich mich laut GPS auf der Route. Ich stieg höher und höher. In regelmässigen Abständen zog ich das Handy hervor und teilte einer Freundin, die mein Backup war mit, dass es mir gut ginge. 

Nun lag eine nochmal steilere Passage vor mir, in der ich nicht alle paar Minuten meine Position prüfen konnte. Zehn Minuten am Stück kraxelte ich mit allen Vieren über Wiesenhänge, die immer mehr mit Felsen durchsetzt waren. Dies hätte rückblickend mein erstes Warnsignal sein können. Es wurde steiler! Beim Blick nach unten machte sich Unbehagen breit. «Nicht runter schauen» sagte ich mir. Am nächsten kleinen Vorsprung checkte ich meine Position. Verdammt!! ich war vom Weg abgekommen. Als ich das realisierte, war es zu spät. Den Rückweg befand ich für zu steil! Also weiter vorwärts. Laut Karte war der Normalweg nicht weit. Zwischen wiesenbesetzten Felsen ging es weiter bergauf, bis ich nur noch Fels um mich hatte. Ich musste Klettern. Technisch war dies kein Problem, aber der Fels in dieser Region ist teilweise locker. So musste ich jeden Handgriff und Fusstritt doppelt prüfen. Was passiert wäre, wenn von oben ein Steinschlag gekommen wäre, möchte ich mir nicht ausmalen. 

Anfangs fiel es mir noch leicht mich auf die Kletterei zu fixieren. Aber immer öfter kamen Bilder von Steinschlag, Abrutschen oder anderen Fehlern meinerseits. Ich schob die Bilder mit den Worten «Das ist jetzt nicht hilfreich» von mir weg. Zweidrei Minuten hatte ich Ruhe, bevor die Angst sich wieder versuchte anzuschleichen. Dabei nutzte sie jede kleine Unsicherheit weiter in mich vorzudringen. Ein loser Stein, den ich lostrat, ein Windstoss, der mich aufrüttelte oder die Geschichten vom Vortag, die Wandergenossen mir von einem verschollenen Arbeitskollegen erzählten. Ich sprach deutliche Worte an meinen Kopf: «Dies ist nicht hilfreich! Fokussier dich auf das, was jetzt zählt. Wir müssen weiter vorwärts. Es gibt kein Rückwärts. Und für ein erfolgreiches Vorwärtskommen brauche ich die ganze Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt!!» Es ging also weiter rauf, ohne zu wissen, was mich erwarten würde. Immer dabei, die Hoffnung, es müsse doch endlich flacher werden und der Normalweg sei gleich da oben.

Irgendwann gelang es mir immer weniger, mich mental und damit auch körperlich freizumachen. Im Sekundentakt drang die Angst abzustürzen weiter in mich. Damit einher ging, dass das Gelände nun senkrecht wurde. Eine Nullfehler-Toleranz traute ich mir nicht (mehr) zu. Ich ging im Kopf nochmal die Möglichkeiten durch und prüfte das Gelände um mich herum. Nein, weder vor noch zurück traute ich mir zu. Also entschied ich mich dafür, die Bergrettung zu kontaktieren. Jetzt hatte ich noch mentale und physische Reserven, um auszuharren, bis Hilfe da sein kann. 

Zum Glück habe ich das Handy immer in der gut zugänglichen Seitentasche, an die ich rankomme, ohne den Rucksack abzusetzen. Denn dafür war kein Platz. Auch musste ich mich mit mindestens einer Hand sichern. Ich merkte, wie ich mich ganz und gar darauf konzentrierte das Handy auch wirklich fest im Griff zu haben. Dank der SOS App, die den Standort und meine Daten automatisch übermittelt, musste ich nur warten bis die Verbindung zur Rega hergestellt wurde. Eine nette Dame ging ran. Ich schilderte meine Situation ruhig und sachlich und beantwortete ihre Fragen. Wie es mir ginge, wieviel Akku mein Handy habe, ob es freie Sicht gäbe, was ich farblich anhätte, ob mir warm genug sei, usw. Es tat gut mit jemanden zu reden. Sie sagte, der Heli sei in rund 15-20 Minuten bei mir. Ich solle die Leitung freihalten. Sie melde sich ggf. nochmal. Ich legte auf. Mit dieser ersten Erleichterung spürte ich, wie meine Körper nachgeben wollte. «Nein, du musst noch warten» hielt ich seine Reaktion auf. «Die brauchen noch etwas. Du musst noch durchhalten. Ich kann mich hier nicht sichern und zum Hinsetzen ist hier kein Platz.» Er gehorchte, auch weil ich ihn intensiv mit frischem Sauerstoff versorgte. Es ist wirklich erstaunlich, wie man über das bewusste Ein- und Ausatmen die körperliche Reaktion steuern kann. Und über die Gedanken, die man sich macht. Hätte ich mich dem «ich kann nicht mehr» hingegeben, wäre mein Kreislauf vermutlich abgesackt. Da ich aber weiss, dass ein «ich kann nicht mehr» noch lange kein «ich kann WIRKLICH nicht mehr» ist, gab es mir die Kraft, die ich brauchte, um mich weiter festzuhalten und zu atmen. Mehr gab es für mich gerade nicht mehr zu tun. 

Mein Atmen wurde unterbrochen durch das Klingeln meines Telefons. Jetzt bloss nicht hektisch werden. Sowohl das Handy als auch ich sollten immer gut festgehalten werden. Ich zog es vorsichtig heraus. Der Anrufer war weg. Langsam und mit Bedacht ging ich in die Anrufliste und drückte auf die letzte Nummer. Wie vermutet, war es wieder die nette Dame aus der Leitstelle der Rega. Der Hubschrauber sei gestartet, müsse aber noch den Bergführer abholen, informierte sie mich. Aber in ca. 10 Minuten sind sie da. Sie würden dann erstmal sichten, wo ich sei. «Können Sie dem Hubschrauber winken?» wollte sie wissen. Ich musste innerlich schmunzeln, denn sie hatte ja keine Ahnung in welch luftiger Höhe ich mich befand. «Besser nicht, ich habe hier keinen Stand und muss mich festhalten.» «Dann bitte nicht winken.» Wir waren uns einig. «Kein Problem, er wird sie auch so finden.» Das hoffte ich doch sehr. So exponiert wie ich an einem grauen Felsen hänge sollte ich bei dem strahlenden Wetter doch gut zu sichten sein. Sie legte auf. Dieses kurze Gespräch lenkte mich schonmal gut ab. Aber jetzt war ich wieder auf mich gestellt. Um Ruhe zu bewahren, konzentrierte ich mich weiter drauf, meine Lungen mit der frischen Bergluft zu füllen und langsam zu entleeren.

Einige Atemzüge später, hörte ich die Rotoren eines Helikopters. Er kam von rechts unterhalb. Sein Anblick zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht und prompt wollte mein Kreislauf sich auch schon wieder zur Ruhe setzen. «Nein, das geht noch nicht. Du musst noch ein bisschen mitmachen». Er liess sich abermals überreden und blieb auf der Höhe. Er erlaubte mir sogar, eine Hand frei zu machen, um dem Hubschrauber, der noch einige hundert Höhenmeter unter meiner Position nach mir suchte, Zeichen zu geben. Irgendwann war er auf meiner Höhe und ich spürte nun auch den Wind, den er verursachte. Mir war, als könne ich die Besatzung denken hören. Ich befürchtete schon, dass ich zu exponiert stand, um mich direkt mit der Seilwinde abzubergen. Diese Befürchtung sollte sich bewahrheiten. 

Sie flogen an mir vorbei gen Gipfel, der ca. 200m über mir sein musste. Nach einigen Minuten querte der Heli erneut meine Position gen Tal und ich sah im Augenwinkel, wie er rund 500 Höhenmeter unterhalb auf einer Ebene mit Parkplätzen, auf der ich auch gestartet bin, landete. Die machen jetzt sicher nen Plan, überlegte ich. Vielleicht müssen sie landen, um die Winde vorzubereiten? Nichts geschah. Nach einigen Minuten startete der Helikopter wieder, ohne dass ich eine Veränderung erkennen konnte und flog gen Tal. Ein kurzer Schreck durchzog mich, aber sogleich sagte ich mir, dass sie mich ganz sicher nicht alleine lassen würden. Ich griff zum Handy, um mir das, was ich für ein gutes Gefühl brauche, zu holen: Informationen. Es klingelte also bei der Rega und ich erkannte sogleich die Dame von vorhin. Sie informierte mich, dass das Einsatzteam noch etwas holen müsse, da man so direkt an mich nicht rankäme. Dies gehe aber maximal 10 Minuten. Ok, dann versuche ich mal meinen Kreislauf bei Laune zu halten, erwiderte ich und meinte, was ich sagte, da ich erneut einen Anflug von Schwäche verspürte.

Nachdem ich aufgelegt hatte, überlegte ich, was ich gegen die nun mehr und mehr aufkommende körperliche und mentale Unruhe tun könne. Ich realisierte, ich brauchte etwas, was über das Atmen hinaus geht. Da ich aber weder im Schneidersitz meditieren noch einen Spaziergang machen konnte, blieb nur die «Flucht» in den Geist. Also versuchte ich mich im Geiste an einen Ort zu bringen, der mich beruhigen kann. Erst versuchte ich in die Welt des Meeres einzutauchen und unter Wasser mit Fischen zu schwimmen. Die Tatsache, dass diese Form des Tauchens ohne Flasche, also Apnoe, mit Luftanhalten einher geht, machte mich in diesem Moment jedoch noch nervöser. Schnell suchte ich einen neuen Ort, der mich in eine Hängematte am Strand brachte. Aber das hin und her der Hängematte war für meinem Stand, der kaum Spielraum aufwies, auch nicht förderlich. Meine grosse Leidenschaft, das Kiten, schied aus denselben Gründen aus. Das Ergebnis nach einigen Minuten war: ich finde im Geiste grad keinen geeigneten Ort, der mir die erhoffte Ruhe bringt. Also wieder zurück in die Realität. Tief Ein- und Ausatmen, und nochmal … und nochmal … und nochmal. Es half nichts, mein Geist verfing sich in fürchterlichen «Wenn dein Kreislauf versagt, dann wirst du dich nicht mehr halten können und abstürzen – Szenarien». Ok, ich sehe, du brauchst Ablenkung, erwiderte ich. Wenn der Geist keine Ruhe findet, dann muss er anderweitig beschäftigt werden. Bei Apnoe Übungen hat mir dieser wichtige Rat, den ich erst vor kurzem in einem Podcast gehört hatte, schon öfter geholfen. Warum also nicht auch jetzt? Aber womit am Berg ablenken, wenn der Blick in die Tiefe zu noch mehr Unwohlsein führt? – Die digitale Welt. Auch wenn es von aussen betrachtet, dumm erscheinen sollte, jetzt das Handy hervorzuholen, aber mir fiel nichts Besseres ein. Ich musste mich geistig mit etwas anderem befassen. Es galt stabil zu bleiben und meinen Kreislauf in Schwung zu halten, egal wie. Wacklige Beine oder gar eine Ohnmacht, konnte ich mir in meiner Situation nicht erlauben. Ich kramte also vorsichtig in meiner Seitentasche und zog vorsichtig das Handy raus. Ich schrieb meiner Freundin, die auch mein Backup war, und informierte sie über den aktuellen Stand der Dinge. Sie wusste nur vom letzten Status, dass die Bergrettung auf dem Weg sei. Ich schilderte also, was, wie, wo und konnte mich damit ein paar weitere Minuten beschäftigen und damit meinen Kreislauf bei Laune halten. 

Dann plötzlich hörte ich etwas. Es kam von rechts oberhalb von mir. Ich stecke das Handy weg. Sollten es Steinböcke sein? Nein, die konnte ich als Unruhestifter grad wirklich nicht gebrauchen. Der Steinbock entpuppte sich aber als Bergretter. Er kam um die steile Kante östlich von mir geklettert. In meinen Augen hatte er für diese Exponiertheit ein ordentliches Tempo drauf. Ich strahlte ihn an und begrüsste ihn. Er wirkte auf mich etwas hektisch und nicht ganz die Ruhe zu haben, die ich mir grad um mich aufgebaut hatte. Seine Finger schienen leicht zu zittern, sein Atmen ging schnell. Erst später in meiner Rückschau verstand ich, dass er vermutlich Angst hatte, ggf zu spät zu kommen. 

Ich begrüsste ihn und sagte, mir gehe es gut. Dass er wegen mir gerne etwas langsam machen könne. Als erstes legte er mir ein Seil um den Bauch, um mich mit einem Karabiner an sich und dem Abseilseil zu sichern. Er wollte mit mir die Querung klettern. «Ah … damit fühle ich mich nicht sicher.» entgegnete ich mit etwas Panik. Als klar war, dass genug Platz ist, den Rettungsgurt schon hier anzulegen, streifte ich diesen über. Als ich im Sicherheitssystem drin hing, wollte der Körper wieder mal das übliche Spiel spielen und sich zur Ruhe setzen. Ein klares «Nein!» meinerseits, hielt ihn aber auf.  «Wie heisst du?» fragte ich meinen Retter. Roland. «Anett. Vielen dank! Was sind die nächsten Schritte?» wollte ich wissen. Mich beruhigt es zu wissen, was als nächstes kommt. «Wir müssen um diese kleine Felsnase, dann kann uns der Helikopter aufnehmen.» Ok. Er ging voraus und ich musste einige mal das Tempo reduzieren, um den für mich sicheren Wohlfühlhalt zu finden. «Wo ist das Seil festgemacht?» fragte ich, um abschätzen zu können, wie weit wir schwingen würden, falls wir stürzen sollten. «Direkt um die Ecke oberhalb». Ok. Was auch immer direkt um die Ecke in den Bergen bedeutet … Ich hatte ja eh keine andere Wahl! Immerhin sass ich jetzt in einem richtigen Rettungsgurt und bin nicht mehr auf mich allein gestellt, sollte es doch noch abwärts gehen. Da ich aber weder ihm noch mir den Fall ins Seil antun wollte, zwang ich mich zu einer letzten fokussierten Anstrengung.

Schritt für Schritt klettertet wir in dem Felsband gen Osten. Ich hörte, wie er über sein Headset dem Helikopter mitteilte, dass wir in 2 Minuten abholbereit seien. Wow, jetzt ging es gefühlt wirklich schnell. Wir hielten an und er schraubte zig Karabiner hin und her. Ich kannte einen ähnlichen Ablauf bereits aus dem Kletterwald, wo ich mich schon einige Male als Versuchskaninchen zu Rettungsübungen zur Verfügung gestellt hatte. Da ich die Sicherheit brauche, zu verstehen, wo ich grad dranhänge, beobachtete ich seine Bewegungen und die Reihenfolge der verschiedenen Sicherheitsgeräte und Karabiner ganz genau. Dabei merkte ich gar nicht wie der Hubschrauber angeflogen kam und das Endstück der Rettungswinde mit dem Karabiner runterliess. Roland fing es und hängte uns ein. Ich hing an meinem Retter und er am Seil. Dass es kein zweites BackUp gab, wischte ich ganz schnell aus meinem Kopf, denn jetzt ging es wahnsinnig schnell nach oben. Der Helikopter stieg und die Seilwinde wurde eingefahren, wobei wir uns anfingen zu drehen. Ich schloss die Augen und vertiefte erneut meine Atmung, wohlwissentlich, dass mir jetzt die Höhe den Rest geben könnte. Wir kamen oben an und die Drehung wurde gestoppt. Ich öffnete die Augen und sah, wie Roland die Kufe des Helis hielt. Ein weiterer Retter im Helikopter blickte mich an und warf mir mit Daumen nach oben einen fragenden Blick zu. Ich hob ebenfalls den Daumen und nickte ihm erleichtert und dankend zu. 

Und jetzt geht’s in den Hubschrauber … hoffte ich. Aber nein. Er nahm an Geschwindigkeit zu und flog gen Süden Richtung Palfries Ebene. Also nochmal tief Luft holen und mich ein klein wenig mehr an Roland festhalten, der mir gegenüber im Gurtzeug hing. Da mein Kreislauf stabil blieb, wagte ich den Blick in die Ferne und erkannte den Walensee mit der Churfirstenreihe. Es war erstaunlich ok für mich, so hoch über der Ebene, auf der ich vor rund 3 Stunden gestartet war, in der Luft zu schweben. Ohne festen Boden unter den Füssen und nur im Gurtzeug hängend, weit oberhalb von Tälern und sogar Gipfeln zu schweben, wäre vor drei Jahren noch undenkbar für mich gewesen. Aber scheinbar haben diverse Tandemflüge im Paraglider, die ich die letzten zwei Jahre gemacht habe, meinem Körper die nötige Erfahrung gegeben, dass er sich auch jetzt sicher fühlte. 

Mit lautem Rotorenlärm überflogen wir die Fahrstrasse am Palfries und nach einer Landeschleife setzte uns der Helikopter auf dem Weg ab. Ich hatte wieder flachen und festen Boden unter den Füssen. Wie tat das gut! Roland entfernte das Gurtzeug und bedeutete mir tief unten in der Hocke zu bleiben. Der Helikopter machte keine Anstalten, die Rotoren zu stoppen. Roland sprang davon und wurde von Martina, der Notfallärztin abgelöst. Kauernd warteten wir, bis der Helikopter wieder in der Luft war. Martina prüfte nochmal mein Wohlergehen, nahm meine Daten auf und als der Heli erneut neben uns landete, war sie auch schon wieder weg. Es reichte aber noch ihr zu Danken und auch dem Team dieses zu übermitteln. Ich hätte am liebsten alle umarmt! Leider war dies nicht möglich. Bevor die Retter sich erneut in die Lüfte erhoben, verschränkte ich meine Hände vor der Brust, schaute jeden einzeln an und nickte ihnen dankend und erleichtert zu.  

Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie sehr ich dankbar bin … für den Einsatz der Retter vor Ort, aber auch für die Existenz einer solchen Einrichtung wie der Rega. An dieser Stelle rate ich allen eine Mitgliedschaft an, damit diese Organisation auch weiterhin erhalten bleibt. Ohne sie weiss ich nicht, was wäre. Ich bin froh, dass es sie gibt, und werde nochmal genauer in die Analyse gehen, um solch eine Situation, die nicht nur mich in Gefahr gebracht hat, zukünftig zu vermeiden. 

Resumee

So viele kleine und grosse Aspekte haben zusammengespielt, dass ich sowohl körperlich als auch mental unbeschadet aus einer sehr riskanten Situation raus gekommen bin. So vieles, was ich die letzten Jahre erfahren und lernen durfte, hat dazu beigetragen, dass ich nicht in unkontrollierte Panik verfallen bin. Meinen Körper so gut zu kennen, zu spüren, wie sich Stress schon in feinen Nuancen ankündigt, bevor er einen übermannt, Tools zu haben, mit denen ich gegensteuern kann, und mich in den entscheidenden Augenblicken immer wieder regulieren zu können, war für mich – wenn vielleicht nicht überlebensnotwendig – so dennoch sehr essentiell, um die Kontrolle zu behalten. Ich habe viel gelernt, über Fehler am Berg und meine Grenzen, über die Macht des Geistes, und wie wichtig Klarheit und Fokus sind. 

Es bleibt für mich nun die Analyse, wie ich zukünftig ein solch hohes Risiko reduzieren kann. Dies fängt bei der Tourenplanung an, geht aber auch weit den Berg hinauf. Wie erkenne ich am Berg den Point of no Return weit, bevor er eintritt? Wie kann ich ein mögliches Abkommen vom Weg vermeiden? Mit diesen und anderen Fragen, werde ich ganz selbstkritisch mit erfahrenen Bergkollegen in den Austausch gehen. Denn weder für mich noch für andere (Retter, Freunde, Familie) möchte ich jemals wieder ein solches Risiko schaffen. 

Ich bin froh, dies alles noch mit euch teilen zu können und vielleicht zieht der ein oder andere auch für sich etwas draus. Der Bericht soll auf keinen Fall die Berge abspenstig machen. Im Gegenteil. Ich möchte dazu ermutigen rauszugehen, aber eben mit Bedacht und immer einem Plan B oder noch besser C im Gepäck. Und den Mut sich lieber früher als später Hilfe zu holen. Es wird euch keiner nen Vorwurf machen, wenn ihr bei neuen Erfahrungen auch Fehler macht. So findet Lernen nun mal statt. Durch Versuch und Irrtum, und manchmal durch Zuschauen bei anderen. Oder indem man einen Beitrag liest. 😉 Eine falsche Entscheidung muss aber nicht zwangsläufig bis zum Ende durchgezogen werden. Besinnt euch eurer Fähigkeiten, und da wo diese enden, holt euch Hilfe. Sei es am Berg, auf dem Wasser oder am Boden, bei körperlichen oder mentalen Themen, im privaten oder geschäftlichen Umfeld. Der Berg und das damit verbundene Risiko ist nur ein Sinnbild für unser Leben. Wollen wir das Leben aktiv gestalten, Abenteuer erleben, Karriere machen oder eine Familie gründen, sind wir gezwungen das Bekannte und Vertraute durch das Unbekannte und Neue zu ersetzen. Bei allem, was wir tun, werden wir mit neuen Situationen konfrontiert. Situationen, die erstmal neu für uns sind und vorab nicht zu hundert Prozent antizipiert werden können. Es liegt in der Natur der Sache: das Leben ist Veränderung. Es gibt kein Stillstand. Seit unserer Geburt findet stetig Veränderung statt und damit geht die Gefahr von Fehlern einher. 

Ich danke euch fürs Lesen. Gerne kann der Beitrag mit Freunden geteilt werden, wenn ihr ihn als nützlich anseht. 

Herzlichst. Eure Bergziege,

ani