Zwei Tage Sarek. Zwei Tage Natur, Wildnis und ich. Zwei Tage weitestgehend allein. Zwei Tage wanderbare Meditation. Grenzen, Gedanken, Geduld. Hoffnung, Höchstfreuden, Heulerei. Gipfelglück, Djungelwahnsinn. Und: laufen, laufen laufen. Ohne Unterlass. Denn jede Pause lädt 1000 neue Mücken auf ein Festmahl ein. Es gilt in Bewegung zu bleiben. Moskitos, die Motivatoren schlechthin. Nach nur 10 Sekunden setzen sie sich scharenweise auf dich und versuchen eine Stelle zu finden, die nicht mit mückendichtem Stoff oder Insektenschutzmittel bedeckt ist. In höheren Lagen, also über der Baumgrenze, die hier kurz über dem Polarkreis schon bei ca. 700m beginnt, wird es ruhiger. Da sind es dann nur 100 🙂
Aber ich werde belohnt: nach einem mühsamen 10 Stunden hike stehe ich hoch oben auf dem Skierfe, dem Berg mit der markanten spitz zulaufenden Form. Wie ein Adler blicke ich tief nach unten in das Rapadalen. Ein Flussdelta, grün-türkis-schimmernd. Es breitet sich zwischen den Bergflanken aus und zieht sich bis weit nach hinten, wo ein Gletscher dieses beeindruckende Naturspektakel speisst. Ich verliebe mich in die von dunklem Sand gesäumten Flussläufe, die von hier oben wie ein Fantasiegebilde eines Künstlern wirken.
Etwas unterhalb vom Skierfe, in einer kleinen Mulde, schlage ich mein Nachtlager auf. Da es gerade dämmert, habe ich auch hierbei Gesellschaft. Meine kleinen Freunde freuen sich über ihr Abendmahl, während ich meines noch koche: eine 5min Terrine von Maggi. Nach so einem Tag ein Luxusmahl. Meine kleinen Freunde, die sonst immer nur Rentierblut bekommen, sehen es vermutlich ähnlich. Nur für kurze Zeit verschwindet die Sonne hinter einem Berg, und schon wird es merklich kühler. Wo tagsüber schon fast unerträgliche 26 Grad waren, sinkt das Thermometer nachts auf unter 8 Grad. Eingekuschelt in meinen Schlafsack und mit Blick durch das Mückennetz auf das Rapadalen schlafe ich ein. Nur ab und an werde ich durch irgendwas geweckt. Wolf, Vielfrass, Rentier? Einer der kleinen piepsigen Vögel? Hier oben gibt es nicht wirklich was gefährliches, aber Essen sollte man nicht draussen stehen lassen. Der ein oder andere Bär wurde vor Jahren gesichtet. Da ich nichts ausmachen kann, schlafe ich schnell wieder ein.
Der nächste Morgen weckt mich freundlich mit etwas Sonne. Wasser hole ich am nahe gelegenen Bach. Es gibt Kaffee und Müsli mit Milch, die ich mir als Luxus hier hoch geschleppt habe. Bei 15kg Marschgepäck, machen die 300g auch nicht mehr viel aus. Jetzt freue ich mich umso mehr über das wohl beste Frühstück, was ich jemals hatte. Bei der Erkundung der Gegend, entdecke ich einen Hügel weiter, zwei Zelte. Auch Deutsche. Sie freuen sich über einen kurzen Talk und sind, wie bisher alle, die ich hier treffe, sehr überrascht, dass ich alleine unterwegs bin.
Heute geht es 700m abwärts. Ich will die Querfeldein-Route ins Rapadelta nehmen. Kein Pfad, nur Sträucher, Bäume, Moore und der Bach mit einigen Wasserfällen zwischendrin. Es geht steil hinab. Aber man sagte mir, es solle gehen, also probiere ich es. Ich kämpfe mich weitestgehend durch Djungel, kletter steilere Abhänge hinunter oder traversiere zwischen den kleinen Birkenbäumen und schlage mich durch Büsche. Auf halber Höhe gibt es auf einem kleinen Plateau eine Wasserfallspause. Erfrischend weht hier ein kleines Lüftchen, was auch meine kleinen Freunde etwas fern hält. Dann geht es weiter. Nach 4 Stunden erreiche ich den Bootsanleger, von wo aus ich später nen Transfer zurück an die Fjellstation haben werde. Anders kommt man aus dem Tal nicht mehr raus. Nach einem kurzen Snack im Stehen (alles andere wäre ein viel grösser Snack für die Mücken gewesen) geht es auf den Nammasj. Der Nammasj ist der quadratisch erscheinenden Berg, der mitten im Rapadelta liegt. Meinen Rucksack lasse ich am Bootsanleger. Was für eine Erleichterung! Nach einem rund ein stündigen Aufstieg erreiche ich den Gipfel, von wo aus ich einen grandiosen 360 Grad Blick auf das Delta und die umliegenden Berge, inklusive dem Skierfe habe. Jippie! Ich habe meine zwei Ziele geschafft! Alles war zwar deutlich anstrengender, physisch als auch psychisch, aber ich habe es tatsächlich geschafft.
Nach dem Abstieg vom Nammasj, meine Beine wollen langsam nicht mehr, bringt mich das Boot nach Aktse zur Fjellstation, von wo aus es nochmal 16km Fussmarsch zum Auto zurück sind. Die ersten 6km geht es abermals durch Mückenland. Ich muss mir mental gut zureden, nicht zu fluchen, sondern mich auf meine Schritte zu konzentrieren. Meine Beine sind ganz schön geschwächt, so dass ich Gefahr laufe mich schnell zu vertreten und umzuknicken. Ich versuche es mit Singen, Schritte zählen und mit Wünschen. „Ich wünsche mir, dass mich die letzten 10km, die ein Allrad-Quad-Weg sind, ein einheimischer Fischer mit seinem Auto mitnimmt.“ Diese Strecke schaffe ich beim besten Willen nicht mehr. Meine Knie schmerzen, meine Schulter ziept und meine Konzentration lässt merklich nach. So laufe ich vor mich hin, begegne mal ner Gruppe von Männern, sage „Hej“ und laufe weiter. Anhalten ist auch hier nicht. 6km – 2,5 Stunden. Trinken und nen Riegel essen während dem Gehen. Durchhalten und laufen, laufen, laufen. Am Quadweg findet sich sicher jemand. Voller Hoffnung laufe ich weiter, jede Wegbiegung sieht wie das Ziel aus. Aber nein, nochmal geht’s weiter um die nächste Biegung über den nächsten Hügel. Die letzten Kilometer sind immer die Schlimmsten. Aber irgendwann sind auch diese gegangen und ich erreiche den Quadweg, der an einem Bootsanleger beginnt. Dort stehen auch tatsächlich Autos und so bin ich guter Hoffnung, dass deren Besitzer, vom Fischen bald zurück sind und mich mitnehmen können. Auf dem kleinen Holzsteg vom Bootsanleger geht ein leichter Wind. Hier kann ich endlich ne Pause machen. Rucksack weg und hinsetzen. Durchschnaufen, Muskeln entspannen und Knie massieren. Mehr schaffe ich heute nicht! So liege ich auf dem Steg und denke an meinen Wunsch. Mein Magen unterbricht mich. Achja, essen wäre gut. Also Kocher an und meine letzte Nahrung, eine Hühnersuppe in den Topf. Auch diese schmeckt einfach herrlich!
Ich warte 2 Stunden, aber kein Fischer in Sicht. Also schlage ich direkt neben den Autos mein Zelt auf und lege mich schlafen. Ein kleiner Zettel, den ich an meinem Wanderstock befestige, bittet um einen Hitch-Hike. Ich schlafe durch bis am Morgen. Alle Autos stehen noch da. Mein letzter Kaffee mit Zucker muss dann also als Energie für den 10km Marsch reichen. Bis auf ein Salbeibonon, was ich mir aber aufhebe, gibt’s heute morgen leider nichts mehr. Meinem Knie geht es deutlich besser, also heisst es nun einen Schritt nach dem anderen gehen. Und wie jeder Weg, so führt auch dieser irgendwann ans Ziel. Mein Auto mit herrrlichem Müsli und Joghurt erwartet mich schon.